Mein Liebster und ich waren auf einer dieser WG Partys, auf denen es reichlich Bier, gute Musik, ein bisschen was zu essen und sanfte Drogen gab.
Das Zentrum diese Party war wie immer die Küche. Dort saß oder stand man an der zentralen Versorgungsstation: dem Eimer mit dem Kartoffelsalat oder wahlweise dem Topf mit dem Chili, dem Kühlschrank voller Bier und dem Karton mit den Chipstüten. Es gab nur zwei Gründe dieses Epizentrum zu verlassen. Entweder man wollte zu seinem Lieblingssong wahlweise tanzen, rumknutschen oder sich dem Konsum der sanften Drogen zuwenden.
In dieser Küche stand er, angelehnt an die Küchenzeile. Nein wartet, natürlich keine Zeile sondern eines dieser Dinger mit der Spüle, das damals in jeder WG Küche neben dem Herd oder den Kochplatten stand. Ein kleiner, drahtiger, gutaussehender Mann. So ein Outdoor-Typ, der aber einen gewissen Charme hatte, der den schöffelgegoretexten Menschen meist nicht zu eigen ist. Er hatte die Arme verschränkt, ein freches Grinsen im Gesicht und erzählte seine Geschichte. Und wir alle hingen an seinen Lippen. Es war von Traum und Alptraum, Himmel und Hölle die Rede. Das sei das Schlimmste und Schönste gewesen, das er je erlebt habe. Es fielen Worte wie irre, wahnsinnig, großartig, abartig, und überhaupt. Er badete den ganzen Raum in Superlativen und wir waren alle so gebannt, dass sich jeder, der in die Küche kam, entgeistert umblickte, sich schnell die gewünschte Verpflegung schnappte und wieder verschwand. Der Mann hat noch in dieser Küche vor Begeisterung gebrannt wie eine Fackel, obwohl sein Abenteuer nun schon einige Tage zurücklag. Ich war schwer beeindruckt. Damals war es mir unvorstellbar, das zu tun, was dieser Kerl getan hatte und ich hätte nie einen Gedanken daran verschwendet. Aber seine Geschichte ist mir all die Jahre im Kopf geblieben und ich sehe ihn heute noch da stehen.
Auf einer Party im Herbst vor zwei Jahren, die sich von der WG Party damals so ziemlich in allem unterschied, aber nicht weniger schön war, ist es dann passiert. Man spricht über das Leben, die Hobbys, den (alten, haha) Körper und Sport und dann höre ich mich auf einmal sagen:
„Ich laufe im nächsten Jahr den Hermannslauf mit.“, um ganz schnell noch ein
„Also, glaube ich.“ hinterher zu jagen.
Hoppla, da war es raus. Denn seit dem Abend vor fast zwanzig Jahren in der WG-Küche schwebte dieses Event immer in meinem Kopf rum: Der Hermannslauf von Detmold nach Bielefeld durch den Teutoburger Wald, 31,1 Kilometer rauf und runter mit über 500 Höhenmetern. In der WG-Küche klang das damals für mich wie der Ironman Ostwestfalens. Aber vor zwei Jahren, nachdem ich nun den einen oder anderen Halbmarathon hinter mir hatte, kam es mir gar nicht mehr ganz so absurd vor, noch einmal zehn Kilometer draufzulegen und endlich auch dieses Ding zu schaffen. Und nun hatte ich es sogar ausgesprochen und mein Plan somit einen Zeugen. Da gab es nun irgendwie kein Zurück mehr.
Einen richtigen Trainingsplan hatte ich nicht. Ich dachte nur, wenn ich regelmäßig laufen gehe, beim Osterlauf den Halbmarathon gut schaffe und zwischendurch auch mal längere Strecken laufe, dann werde ich den Hermann schon schaffen. Wenn man sich dann zum Hermannslauf angemeldet hat und auch darüber spricht, passiert folgendes: Jeder kennt jemanden der ihn schon hinter sich hat, wenn sie oder er nicht sogar selber schon einmal dabei war. Und dann kommt das, was schon vor zwanzig Jahren in der WG-Küche passierte. Egal wie lang der Lauf zurückliegt und vor allem sogar egal, ob es das eigene Erleben oder die Geschichte eines anderen ist: Fast ausnahmslos bekommt man ungefragt einen kompletten Erlebnisbericht zu hören, ob man will oder nicht. Man hört dann Namen wie Panzerstraße, Tönsberg, die berühmten Lämershagener Treppen und der Eiserne Anton. Dicht gefolgt von Tipps, wie genau welche Teilabschnitte der Strecke anzugehen sind, welche Knackpunkte es gibt, was man unbedingt dabei haben sollte und welche Fehler in jedem Fall zu vermeiden sind. Bis zum Ende aller Berichte weiß man oft gar nicht so recht, ob es sich um eine Erfolgsgeschichte oder die Schilderung einer ganz persönlichen Niederlage handelt, so sehr wird mit positiven und gleichzeitig mit negativen Superlativen um sich geschmissen. Am Ende hatte ich richtig Angst vor dem Lauf, so sehr hatten mich im Vorfeld Alle verrückt gemacht. Nur gut, dass ich nicht alleine am Start stand, sondern eine liebe Lauffreundin neben mir hatte, für die es auch eine Premiere war. Und ganz weit vorne Stand auch der Liebste, auch für ihn der erste Hermann. Er hatte sich kurz entschlossen auch noch angemeldet, frei nach dem Motto ‚Wenn die das kann, kann ich das auch‘.
Was soll ich sagen? Werde ich demnächst auch in WG Küchen stehen und die Superlative raushauen, wie aus einer Konfettikanone? Sehr wahrscheinlich ist es eher ein gediegener 50ter Geburtstag in einem modernen Einfamilienhaus, das bringt das Alter so mit sich. Und weil ich meinen jugendlichen Leichtsinn mittlerweile mit Mitte 40 gut in den Griff bekommen habe, werde ich auch mit Superlativen sparsam umgehen.
Der erste Hermannslauf war für mich der erste Lauf der einen Namen hatte. Nicht, weil er Hermann heißt, sondern weil er natürlich etwas ganz besonderes war. Ein Lauf mit Charakter, den jeder Läufer wirklich ganz anders erlebt und deswegen auch ganz anders beschreibt. Ich hielt ihn immer für etwas für mich ganz und gar Unmögliches und ich habe vor Freude gequiekt und geheult, als ich ins Ziel lief. Geschafft! Und nach dem Lauf ist vor dem Lauf.
Wikipedia sagt: Marathon
Der Marathonlauf (kurz Marathon) ist eine auf Straßen oder Wegen ausgetragene sportliche Laufveranstaltung über 42,195 Kilometer und zugleich die längste olympische Laufdisziplin in der Leichtathletik.
In erster Linie aber war der Hermannslauf, DER LAUF, weil direkt im Ziel jemand zu mir sagte: „Wenn du den Hermann schaffst, dann schaffst du auch einen Marathon.“
Klingt nach einem Plan.