Nicht dass wir uns falsch verstehen, er hatte keine Pfeife, aber jede Menge anderer lustiger Sachen im Gepäck.
Endlich war es so weit, endlich der offizielle Tag #1 am 3. Juli 2017. Ab jetzt nicht mehr einfach nur auf das Datum des Berlin Marathons hin fiebern, sondern aktiv werden und die Voraussetzungen schaffen. In meinen Briefkasten flatterte vorher irgendwann der erste ganz persönliche Plan meines Trainers. Voll, sehr voll auf den ersten Blick. Vor meinen Augen tanzten Zeitangaben, Pacezeiten und kryptische Abkürzungen wie LDL, RDL, DL als FS. Ich las Wörter wie Intervall, Bahntraining, Fahrtspiel, Steigerungen, darauf auch viele Adjektive wie schneller, zügiger oder locker und ein Wort, dass irgendwann zu meinem Lieblingswort werden sollte: Pause. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich alles verstanden hatte. Nein, anders: Es hat eine Weile gedauert, bis ich das alles verstehen wollte und mich auch wirklich auf diesen ganzen Zirkus einlassen konnte. Es war eben doch mehr, als einmal am Tag einen Haken auf einem Blatt Papier zu machen. Ich habe diesen Zettel wie einen heiligen Gral mit mir herumgetragen. Da drin stecken irgendwo am Ende die 42,195 km, dachte ich.
Einmal die Woche stand das Bahntraining an. In der Regel trafen wir uns dafür am Ahorn-Sportpark, eine riesige Sportanlage mit allem, was das Sportlerherz begehrt, einer tollen Laufbahn und dem kuscheligsten Rasen zum barfuß laufen, den ich je kennengelernt habe. Auf dieser Anlage treffen sich jeden Tag und Abend so viele sportbegeisterte Menschen, dass einem das Herz aufgeht. Da rennen sich die Profi-Athleten des Paderborner LC die Hacken ab, während die Coronarsportgruppe ganz gemütlich ihre Runden dreht und zwischendurch den Blutdruck misst. Mittendrin ich, zusammen mit meiner Lieblingslauftruppe und Axel. Man fühlt sich schon beim Betreten der Anlage wie ein Sportprofi und schon allemal mit einem Personal Coach an seiner Seite. Der wiederum ist ja kein Neuling in der Szene, kennt Hucki und Schnucki und so wird man auch als sein neuer Schützling irgendwie sofort ein Teil des Ganzen. Das Training dort war so eine kleine Mischung aus Sportunterricht (Anfersen, Skippings, Hopser, Fußgelenksarbeit), irgendwie auch Stammtisch („Jetzt hört aber mal auf zu Quatschen und konzentriert euch. Das ist euer Training hier!“) und elendiger Plackerei (Intervalle). Ich hätte vor allem diese Intervallläufe nie ohne meine allerliebste Lauftruppe geschafft. Das bringt einen ja so an den Rand der Verzweiflung, dass man in jedem Fall eine Schulter zum Rumheulen braucht. Als ich das in der Urlaubszeit mal alleine machen musste, habe ich meine Tochter mitgenommen und mit der Stoppuhr an den Rand gebeten. Und nach jedem Intervall, das sie gestoppt hat, gejammert: „Bienchen, Mutti kann nicht mehr.“
„Und, was hast du so diesen Sommer gemacht?“ „Äh, ich bin gelaufen und habe Laufklamotten gewaschen.“
Wenn ich vorher gelaufen bin, um in kürzester Zeit möglichst viele Kalorien zu verbrennen, dann hatte meine Lauferei nun endlich einen weiteren Sinn, ein Ziel. Und das fühlte sich zuerst einmal auch richtig gut an. Jetzt hieß es nicht, einfach mal loslaufen und schauen, wie viel Lust man hat und wie weit man so kommst. Sondern ich hatte Laufaufgaben bekommen. Bestimmte Zeiten und Geschwindigkeiten, kleine Fahrtspiele, Steigerungsläufe und vieles mehr. Zuerst fand ich das wahnsinnig komplex, aber ich wusste ja, ich kann mich blind auf meinen Trainer Axel verlassen. Irgendwann waren es für mich dann nicht mehr nur Laufaufgaben, sondern auch wirklich abwechslungsreiche Läufe. Haltet mich für total bekloppt, aber man läuft einfach anders, wenn einem durch den Kopf geht, dass man gleich noch mal schneller werden muss. Oder man rechnet doch schon wieder, wie viele Tage es noch bis zum Marathon sind, oder man ist mit den Gedanken sogar schon beim Lauf des darauffolgenden Tages, weil da so ein langer Knüller auf dem Programm steht. Kein Lauf ist mehr einfach nur eine normale Laufrunde. Alles ist DL, TDL, LDL, RDL oder was auch immer. Jeder verdammte Lauf hat seinen Sinn und Zweck und ich habe das so ehrfürchtig durchgezogen, als würde ich gleich aus irgendeinem Olympia-Sportkader fliegen, wenn ich mal den einen oder anderen Kilometer schwänze.
Und dann bloß nicht krank werden! Ach, es gibt ja die schlimmsten Geschichten. Verletzungen, kurz bevor es losgeht. Eine fiese Grippe oder ein Magen-Darm-Infekt in der heißen Trainingsphase. Je näher das Datum des Marathons rückte, desto paranoider wurde ich. Ich schwöre, ich habe noch nie in meinem Leben so sehr darauf geachtet, offensichtlich erkälteten oder kranken Menschen nicht die Hand zu geben oder mich von ihnen fern zu halten. Selbst der erkältete Sohn hatte es irgendwann drauf: Nee, Mama. Besser keinen Gute-Nacht-Kuss. Denk an deinen Marathon! <3
Ich habe durch das Marathontraining eine Menge gelernt. Ich weiß jetzt allerhand über das Laufen an sich, kenne nun viele gute Übungen, weiß was man besser isst und was nicht, in so einer Trainingsphase. Ich habe wunderschöne Laufstrecken kennengelernt, aber vor allem auch tolle Menschen, die mich bei den einen oder anderen Trainingsläufen und den Intervallen begleitet haben. Ich danke euch so sehr! Alleine hätte ich das niemals geschafft. Ihr habt mir beigebracht, wie schön es sein kann, zusammen zu laufen. Dabei zu lachen, zu quatschen, zu fachsimpeln oder stundenlang schweigend nebeneinander her zu traben. Danke! Alleine das war es wert, sich auf den Weg zu einem Marathon zu machen!
Am allermeisten habe ich aber über mich selbst gelernt. Abgesehen davon, dass ich meinen Körper nun mit ganz anderen Augen sehe, weiß ich jetzt auch ziemlich genau, wo meine Grenzen sind. Und wenn ich mich auch zwischendurch alleine mit mir auf den langen Läufen in weiter Flur oft höllisch gelangweilt habe, ist es genau diese Zeit, die ich im Rückblick ebenso zu schätzen weiß. Wenn es gut lief und ich im Flow war, war ich mit den Gedanken überall und nirgends, habe Probleme im Kopf hin und her gewälzt, am Ende sogar Lösungen gefunden. Habe meinen Gefühlen freien Lauf lassen können, geheult, gesungen und manchmal auch geschrien. Es kam sogar vor, dass ich bei all der Denkerei vergessen habe, dass ich lief.
Das letzte Ende trägt ja bekanntlich die Last und irgendwann kam er dann, wie von allen prophezeit. Der Punkt, an dem ich fertig war. Mit den Nerven, den Kräften, dieser Rennerei. Ich war einfach so satt. Die letzten Trainingswochen kamen mir wie eine Ewigkeit vor und ich konnte mich kaum noch daran erinnern, irgendwann einmal etwas anderes gemacht zu haben, als zu laufen. Ich war sowas von durch und habe auch in diesem Fall wieder meinen Trainer zu Rate gezogen.
„Axel, hör zu. Es ist folgendermaßen. Es reicht. Ich kann nicht mehr, wir müssen aufhören. Ich bin fix und fertig.“ Und es lief wieder genau so ab, wie schon zu Beginn. Er schaute mich an, nickte, strahlte und sagte: „Gut so. Genau so soll es sein.“
Mindestens halb so schön, wie der eigentliche Lauf, war dieses Etappenziel am Ende des Trainings. „Sandra, wir sind fertig. Du hast jetzt alles was du brauchst. Ruh dich aus, iss genug. Lauf locker aber nur ganz kurz, wenn du magst. Und dann viel Spaß in Berlin!“ Ab jetzt kommt es also nur noch auf mich alleine an, dachte ich. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen und erinnere mich so gern an unser letztes Treffen vor dem Marathon, an das Foto, das wir gemacht haben und an das Gesicht des Trainers als er sagte: „Glaub mir, ich bin genau so nervös wie du.“
Fortsetzung folgt…