Tiefe Religiosität bei Menschen hat bei mir immer schon zweierlei Gefühle ausgelöst und das hat sich bis heute nicht geändert. Auf der einen Seite eine Art Faszination und auf der anderen Seite Fassungslosigkeit.
Aber fangen wir von vorne an. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die mit Religion, Glaube oder Spiritualität nie viel am Hut hatte. Ich habe mir sagen lassen, dass meine Oma väterlicherseits eine sehr gläubige Frau war und mein sechs Jahre älterer Bruder aus diesem Grund auch Messdiener in der katholischen Gemeinde werden musste. Dass sie zudem auch darauf bestand, dass ich einen anderen Taufnamen als meinen Rufnamen bekomme, damit ich einen echten Heiligen als Namenspatron habe. Alles Religiöse in meiner Familie beschränkte sich immer eher auf meine Großeltern. Meinem Vater ist es glaube ich schnuppe und für meine Mutter eher etwas wie Tradition.
Ich bin in einen katholischen Kindergarten gegangen, weil dieser am nächsten lag. Und das katholische Mädchengymnasium hatte ich mir ausgesucht, weil es ebenfalls nah bei war, wie man hier so schön sagt, und meine ältere Cousine schon dort zur Schule ging. Die Schule wurde von Ordensschwestern geführt und so lernte ich sehr früh sehr viel und eindrücklich, was genau Religion ist und wie man in diesem Fall den katholischen Glauben lebt bzw. leben kann. Ich habe in meiner Jugend verschiedene Phasen erlebt, in denen ich mich Gott, ja sogar der katholischen Kirche, nah und verbunden gefühlt habe. Selbst als junge Erwachsene noch. Irgendwann jedoch veränderte sich dieses Gefühl für Gott, löste sich vollständig ab vom katholischen Glauben. Eine Reise durch Indien, ein Wochenende im Ashram und viele Yogastunden und viele Bücher später habe ich herausgefunden, dass ich eher an so etwas glaube wie „das große Ganze“, an Energien vielleicht, ja schon an IRGENDWAS. Aber eben an nichts, was sich für mich eindeutig einer der fünf Weltreligionen zuordnen ließe. Ist auch nicht schlimm, mir fehlt nichts. Mein Bezug zur Religion und zum Glauben hat sich also über die Jahre verändert. Sehr gut formuliert es für mich der Autor Kamel Daoud in seinem Buch Der Fall Meursault.
„Die Religion ist für mich wie öffentliche Verkehrsmittel, ich nehme sie nicht. Ich bewege mich gerne hin zu Gott, auch zu Fuß, wenn es sein muss, aber nicht in einer organisierten Gruppenreise.“
Oder auch die Fantastischen Vier in einem meiner absoluten Lieblingssongs Millionen Legionen. Er erschien 1999 und ich war und bin auch noch heute Feuer und Flamme, vor allem für den Text. Diese Worte haben Bilder in meinem Kopf erzeugt, die ich noch heute mit mir herumtrage und die mich tragen. Und unter anderem auch die eine Frage noch Gott.
„Und ich ringe zum Himmel, dass die Stimmung hier umschwingt
Heb‘ die Hände zu Gott, oder wer immer da rumhängt.“
Nicht verändert haben sich in all den Jahren hingegen meine fast widersprüchlichen Gefühle von Faszination und Fassungslosigkeit. Faszination, wenn es darum geht andere Menschen zu erleben, wie sie ihr tiefreligiöses Leben führen. Ihr unerschütterliche Glaube, ihre Hingabe mit der sie ihre Rituale vollziehen und ihre Verbundenheit mit anderen Schwestern und Brüdern im Glauben. Auf der anderen Seite die Fassungslosigkeit. Über das, was sich Männer wie Frauen, aber leider vor allem Frauen, im Namen ihrer Religion gefallen lassen. Wie sehr sie sich in ihren Freiheiten einschränken lassen, von vermeintlichen Gesetzen aus uralten Büchern, von Predigern oder Geboten einer Glaubensgemeinschaft. Manchmal möchte ich diese Frauen nehmen und rütteln, um sie wach zu machen, um für die Selbstbestimmung über ihre Körper und ihr ganzes Sein zu kämpfen. Ein inniger Wunsch wäre es in der Tat, eine streng gläubige Muslima, eine Methodistin oder eben auch eine chassidische Jüdin mit Fragen geradezu zu löchern. Weil es mich so fassungslos macht, was sie und andere Frauen im Namen ihres Glaubens auf sich nehmen. Vielleicht könnte ich sie nach so einer Fragestunde besser verstehen.
Chassidische Juden, und da kommen wir zum Ursprung meiner Gedanken hier, sind die Menschen um die es in dem Buch Unorthodox von Deborah Feldman geht. Während jeder einzelnen Seite des Buches war ich fasziniert und habe gleichzeitig gelitten. Ich habe lange kein Buch mehr gelesen, das mich so gefesselt hat. Nicht nur wegen der unfassbaren autobiographischen Geschichte der Autorin, sondern auch weil es so wunderbar geschrieben ist. Deborah Feldman ist eben nicht nur eine besonders mutige Frau, sondern eben auch eine ganz hervorragende Erzählerin. Ihr öffentlicher Instagram Account macht das Bild für mich komplett. Es ist so schön und interessant zu lesen, was diese Frau aus ihrem Leben gemacht hat. Aus dem Leben, das eigentlich nach dem Willen der Tora und ihrer Familie ganz anders hätte laufen sollen.
Die Lektüre dieses Buches hat mich wieder ein kleines Stückchen weitergebracht. Auf meinem Weg zu Gott, oder wer immer da rumhängt.
Unorthodox von Deborah Feldman, 382 Seiten, btb Verlag