Auf dem Buchrücken die kurze Zusammenfassung: „Die Chronik einer manisch-depressiven Erkrankung: erzählerisch funkelnd, autobiografisch radikal.“
Gut, denke ich. Klingt interessant, aber der wahre Auslöser dafür, dieses Buch auf meine Weihnachtswunschliste zu setzen, war das, was Kathrin Wessling darüber geschrieben hat. Dieses Buch sei das Buch, das Benjamin von Stuckrad-Barre eigentlich hätte schreiben wollen.
Ich mochte Stuckrad-Barres „Panikherz“ sehr. Aber es bleibt, was die Krankheit angeht, tatsächlich an der Oberfläche und die aberwitzigen Situationen, in die Stuckrad-Barre (Herrgott, was für ein sperriger Name) durch seine Drogensucht und seine manisch-depressiven Phasen stolpert, scheinen irgendwie im Vordergrund zu stehen.
Das ist bei diesem Buch wirklich völlig anders. Es ist kein Abenteuerroman, kein Roadmovie, wie es bei Panikherz hin und wieder den Anschein hatte. Es ist ein Seelenstriptease, eine Kapitulation davor, immer noch so zu tun als wäre nichts.
„Im Englischen gibt es die bekannte Wendung the Elefant in the room. Sie bezeichnet ein offensichtliches Problem, das ignoriert wird. Da steht also ein Elefant im Zimmer, nicht zu übersehen, und dennoch redet keiner über ihn. Vielleicht isst der Elefant peinlich, vielleicht ist seine Präsenz allzu offensichtlich, vielleicht denkt man, der Elefant werde schon wieder gehen, obwohl er die Leute fast gegen die Zimmerwände drückt. Meine Krankheit ist so ein Elefant. Das Porzellan (um ihn gleich durch ein zweites Bild stapfen zu lassen), das er zertreten hat, knirscht noch unter den Sohlen. Was rede ich von Porzellan. Ich selbst liege darunter.“
Und dann beginnt er, in Rückblenden, Thomas Melles Tanz mit dem Elefanten. Abgesehen von einem ganz ehrlichen und unverstellten Einblick in den Kopf eines manisch-depressiven Menschen, ist es auch ein Buch über uns Menschen, unsere Gesellschaft und deren Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen.
Seine Sprache ist eine Wucht, nicht überladen aber hin und wieder mit Bildern gespickt, die faszinieren und einen mitreißen auf diesem Höllenritt.
Am Ende ist man sogar ein bisschen erschöpft, als hätte man es selbst die ganze Zeit mit diesem Menschen aushalten müssen.
Eine Woche nachdem ich das Buch ausgelesen habe, liest Thomas Melle im Theater in meiner Stadt. Er puzzelt mit genau den richtigen Auszügen aus seinem Buch ein Bild seiner Krankheitsgeschichte und zieht mich mit seinem Äußeren, seiner ruhigen Art zu lesen und scheinbaren Unaufgeregtheit in seinen Bann.
Am Ende bleibt bei mir das Gefühl von Scham. Dass ich mir anmaße, diesen Menschen nun zu kennen und dass ich ihm am liebsten tausend Fragen gestellt hätte. Mein Liebster lacht mich aus nachdem ich den Wunsch geäußert hattee, mit Thomas Melle mal einen Tag oder Abend verbringen zu dürfen. Wozu, fragt er. Denkst du, er würde dir alles erzählen, angefangen mit dem wo das Buch aufhört bis heute?
Eine Frage- bzw. Diskussionsrunde ist nach der Lesung nicht vorgesehen. Schlauer Mann, mein Liebster, denn nur weil ein Mensch in Form eines solchen Buches sein Innerstes nach außen gekehrt hat, hat man noch lange keinen Anspruch auf die Fortsetzung der Geschichte.
Auf meinem Nachttisch liegt nun 3.000 Euro von Thomas Melle. Seine Sprache hat mich fasziniert, und weil dieses Buch in einer seiner manischen Phasen entstanden ist, bilde ich mir ein dadurch auch noch ein bisschen mehr über den Autor erfahren zu können.
„Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle, Rowohlt Berlin 2016, 19,95 €