In der letzten Woche hat mir mein Trainer eine Lektion erteilt. Auf meinem Trainingsplan für den Marathon in Berlin stand ein langer, sogenannter ruhiger Dauerlauf (RDL). Ruhig bedeutet in diesem Fall langsam. Wirklich langsam. Sehr sehr langsam.
Seinen Vorschlag, diesen Lauf als Halbmarathon bei einem offiziellen Lauf zu absolvieren, fand ich toll. Erstens, dachte ich, es sei gut, endlich auch mal wieder eine andere Strecke zu laufen. Selbst wenn ich mich damit schwer tue, gewohnte Pfade zu verlassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber ein paar Leuten oder Pfeilen hinterherzulaufen, ist eben doch einfacher, als ständig darüber nachdenken zu müssen, wie viele Kilometer man jetzt wohl schon hinter sich hat, wo man gerade ist und ob man den Weg zurück auch wiederfindet. Zweitens der ganz pragmatische Ansatz: Ich zahle 10 € Startgebühr, dafür werde ich in regelmäßigen Abständen mit Wasser versorgt und brauche mir diesen fiesen Trinkgurt nicht umzuschnallen. Und als Sahnehäubchen obendrauf trifft man Freunde und nette Laufbekannte, kann so tun, als wäre man voll im Thema und ein bisschen lauffachsimpeln.
In der Startaufstellung wurde mir dann aber schnell klar, worauf ich mich da eingelassen hatte. Das Starterfeld beim Halbmarathon war eher überschaubar und schon nach dem ersten Kilometer wusste ich, dass dieser Lauf kein Trainingslauf sondern vielmehr eine Trainingslektion werden würde. In nullkommanix war ich hinten nämlich ziemlich alleine.
Ihr kennt das: Es gibt Zeiten im Leben, da läuft es halt so gar nicht. 2008 und 2009 war so eine dunkle Zeit für mich. In 2008 hatte ich meinen Traumjob verloren, einer meiner Liebsten lag ziemlich angeschlagen am Boden und war nur langsam unterwegs auf dem Weg zur Genesung und zu guter Letzt wandten sich die Menschen von mir ab, von denen ich dachte, sie stünden mir zur Seite, wenn es mal hart auf hart kommt. Schlimm, dieses 2008. Danach strauchelte ich in das neue Jahr 2009, immer noch leicht angeschossen irgendwie, aber es schien alles wieder auf dem Weg. Auf keinem leichten, aber in Bewegung, und vor allem in die richtige Richtung – nach vorn. Das Laufen plätscherte zu der Zeit so dahin. Wenn’s hoch kam einmal die Woche 10 km und, wenn ich ganz verrückt drauf war, auch mal 13 km. Ohne jeglichen Ehrgeiz, einfach nur mal rauskommen und vor allem Kalorien verbrennen.
Nachdem alles wieder in geordneten Bahnen zu lief, war es höchste Zeit für ein Highlight, für eine Portion Selbstbewusstsein, für so ein Sandra-Ding. Und in einer übermütigen Hochstimmung nach einer schönen Joggingrunde meldete ich mich offiziell zu meinem ersten Halbmarathon an. Ohne Vorbereitung, ohne Training und vor allem ohne einem blassen Schimmer davon, auf was ich mich da überhaupt eingelassen hatte. Ich war wild entschlossen und voll motiviert. Mein Ziel war ankommen, durchkommen, um am Ende mit einem Gefühl von „Du hast es geschafft!“ belohnt zu werden.
So startete ich mutterseelenallein 2009 beim Paderborner Osterlauf zu meinem ersten offiziellen Halbmarathon. Es war schweineheiß an diesem Ostersamstag aber die Stimmung war super, wie immer beim Osterlauf. Um erst gar nicht in die Bedrouille zu kommen, dass Massen an mir vorbeiziehen und mich damit runterziehen, habe ich mich ganz hinten angestellt. Wirklich hinten. Neben mir fünf schnatternde Frauen und ein Mann, der versuchte die Mädels zu beruhigen und sie für den bevorstehenden Lauf in Stimmung zu bringen. Hinter mir niemand mehr.
Er: „Na, auch mal lieber hinten starten, wa?“
Ich „Ja, sicher ist sicher. Ist mein erster Halbmarathon und ich bin nicht so schnell. Ich will einfach nur ankommen.“
Alle fünf Mädels gleichzeitig kreischend: „Wir och!!!“
Er: „Na, dann biste bei uns jerade richtig. Ick trainier die Mädels hier, die wollen alle mal nen Marathon lofen. Aber jetzt müssen sich alle erst mal hierdurch quälen. Seita jut drauf, Mädels?“
Gelächter und Gemurmel aus dem Mädelstrupp.
Wie sich herausstellte, war es die beste Entscheidung für diesen Tag, mich zu dieser lustigen Truppe zu gesellen. Der Trainer kümmerte sich nicht nur rührend um seine Mädels, sondern auch um mich.
„Willste wat trinken?“
„Brauchste Zucker, nen Energiegel oder so wat. Ick hab allet mit.“
Ganz zu schweigen von ständigen Motivationsansprachen während der nächsten zwei Stunden.
„Ihr seht juut aus allemann. Haltet durch, ihr packt det!“
Es packten nicht alle. Zwei der fünf Mädels kapitulierten auf der Hälfte der Strecke. Ungefähr bei Kilometer 17 spürte ich, dass ich immer noch recht fit war und die letzten Kilometer tatsächlich noch ein bisschen schneller laufen konnte als meine Kampftruppe. Ich habe allen herzlich gedankt und bin dann die letzten Kilometer mutterseelenalleine aber überglücklich gelaufen und habe nach 2 Stunden, 31 Minuten und 7 Sekunden das Ziel erreicht. Ich hätte heulen können vor Freude, habe es wohl auch getan und im Ziel auf die anderen Debütantinnen gewartet. Es war ein Fest.
Am Rand stand mein Liebster, der damals an der ein oder anderen Stelle rief: Hey, du musst schneller laufen, du bist zu langsam! Hopp hopp hopp! Er rief das sicherlich mit bester Absicht, aber er hatte nicht verstanden, worum es mir ging. Die Zeit war mir total egal, ich wollte ankommen und dieses Ziel auf keinen Fall dadurch gefährden, viel zu schnell loszurennen und dann abbrechen zu müssen.
Letzten Sonntag, bei meinem langsamen Lauf um die Aabachtalsperre, musste ich die ganze Zeit an diesen ersten Halbmarathon denken. Wie befreiend es sein kann, sich nicht treiben zu lassen. Wie anstrengend es mitunter auch ist, nicht alles geben zu dürfen, sondern mit gezogener Handbremse zu laufen. Und wie wertvoll so ein Blick auf alte Zeiten sein kann. Aus den bittersten Zeiten entstehen eben manchmal die schönsten Früchte. Wenn alles gut läuft, dann werde ich im September nach acht Jahren meinen Traum vom Marathon wahr machen. So wie die Berliner Mädels. Bei mir hat es eben einfach nur etwas länger gedauert.
Danke Trainer, für diese Lektion. Ich habe nicht nur für die Lauferei was gelernt, sondern wieder einmal etwas fürs Leben.
Fortsetzung folgt…
Es ist so schön, dich auf deinem Weg dahin begleiten zu dürfen! Liebe Lauffreundin, Du schaffst das!
PS. Ich habe auch beim Laufen regelmäßige A-HA-Effekte 🙂
Danke, liebe Jana. Ist es nicht wunderbar, wie sich beim Laufen ganz oft wirre Gedanken schön sortieren!? Gut zu wissen, dass so viele mitffiebern und mir die Daumen drücken! <3